Prolog
Er hatte nicht gemerkt, wie die Zeit verflog. Als er ihre Stimme hörte und aufsah, fielen bereits die letzten Strahlen der Abendsonne durch die leeren Fensteröffnungen, die nur durch magische Schilde Schutz vor Wind und Kälte boten, und tauchten die Bibliothek in ein rostrotes Licht.
„Kommst du, Nat?“, fragte sie.
Sie lehnte im Rahmen der Eingangstür, die Arme, die fast in den weiten Ärmeln ihrer schwarzen Magierrobe verschwanden, über der Brust verschränkt, ihr langes Haar offen. Ohne jegliche Verzierung und ohne eine einzige Welle fiel es ihr gerade bis zu den Hüften. Die letzten Strahlen der Sonne ließen die roten Glanzlichter in seinem sonst fahlen Braun aufleuchten und ihre sonst durch das Schwarz der Robe bleich erscheinende Haut erglühen. Sie hatte ihre Unterlippe vorgeschoben, zusammen mit den verschränkten Armen ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Geduld zu Ende ging.
Er warf noch einen letzten Blick auf das Buch vor ihm – Aufbewahrungsformen der Magie – und schlug es dann, nicht ohne Bedauern, zu, natürlich nicht, ohne die Seite vorher mit einem Leseband zu markieren.
„Du arbeitest zu viel“, sagte sie, als sie den Gang zum Speisesaal hinuntergingen.
„Unsinn“, sagte er kurz angebunden. „Wir sind hierhergekommen, um zu lernen. Nicht, um uns zu vergnügen.“
Er warf einigen der anderen Lehrlinge, an denen sie vorbeigingen, einen bezeichnenden Blick zu. Er hörte ihr Gelächter, als sie sich entfernten und wusste, dass sie nun wieder Grimassen schnitten und einer von ihnen seinen Gang nachahmte, der geduckt war und seltsam getrieben. Nachdem er sie zum ersten Mal dabei ertappt hatte, wie sie ihn nachahmten, hatte er einen Spiegel in der leeren Luft seiner Schlafkammer heraufbeschworen und war vor ihm auf und abgegangen. Tatsächlich, musste er zugeben, war die Imitation äußerst gelungen.
Sie waren nun fast am Speisesaal angekommen. Es war in diesen Tagen selten, dass sie zu zweit unterwegs waren und bevor er sich zu genau überlegen konnte, was er da tat, hielt er sie am Handgelenk zurück. Sie drehte sich zu ihm um.
„Möchtest du nach dem Abendessen noch etwas Zeit verbringen?“, fragte er.
Sie sah ihn an, mitten in dem Strom aus Menschen, der gezwungen war, sich um sie zu teilen. Ein Lehrling rempelte Nathanael absichtlich an, doch er achtete nicht darauf. Dann glitt ihr Blick zur Seite ab.
„Es tut mir leid“, sagte sie und so etwas wie Bedauern stand in ihren Augen. „Simon hat mich bereits gefragt.“
Die Zurückweisung schmerzte. Ausgerechnet Simon, dieser übergewichtige Tinkturenpanscher, dieser ungelenke Möchtegernalchemist.
„Warum kommst du nicht mit?“, fragte sie. „Es wäre so wie früher. Weißt du noch, wie viel Spaß wir zu dritt hatten?“
„Ganz bestimmt nicht“, entgegnete er. Er wollte sich abwenden, aber sie legte ihre Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück.
„Ganz ehrlich“, sagte sie, „ich mache mir Sorgen um dich.“
„Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.“
„Aber die Bücher, die du liest. Und die Experimente … Denkst du nicht, dass du zu weit gehst?“
Er schüttelte ihre Hand ab.
„Es gibt kein zu weit“, sagte er. „Es gibt nur Stärke und Schwäche und eines Tages werde ich stärker sein als alle hier.“
Sie hatte ihre Arme wieder vor der Brust verschränkt. Er hatte sie verletzt, das konnte er an ihrem Gesichtsausdruck sehen. Vielleicht sollte er sich entschuldigen. Wenn er sich jetzt entschuldigte, würde sie lachen und mit einer knappen Handbewegung das Ganze abtun. Doch er zögerte und der Moment ging vorüber.
„Vielleicht“, meinte sie, „doch wenn du wirklich der Mächtigste bist, wirst du jeden einzelnen Tag deines restlichen Lebens in Angst verbringen.“
Er lachte, dann sah er, dass es ihr ernst war.
„Es ist genau andersherum“, sagte er. „Es sind die Schwachen, die sich fürchten müssen, weil die Mächtigen sie beherrschen.“
„Nein. Du bist es, der sich fürchten wird. Denn jeder, der dich auch nur ein einziges Mal besiegt, und sei es durch Glück, wird dich zu Fall bringen.“
„Es glaube nicht an Glück“, sagte er. „Und niemand wird mich besiegen.“ Dafür würde er sorgen. Er würde besser sein als Simon, dieser Tollpatsch, besser als die Lehrlinge, die sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten, besser als die Lehrer, die ihn hassten, weil er sie bereits zu übertrumpfen drohte. Als er aus seinen Gedanken wieder auftauchte, war sie fort und er starrte in die Leere, die sie einen Moment zuvor noch ausgefüllt hatte.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie gegangen war.
Nach Westen
Tkemen faltete den Brief und entfaltete ihn wieder, aber die Worte blieben die gleichen.
Seltsame Gerüchte über Armee Lord Eisens. Gehe nach Westen und finde mehr heraus. Erstatte Bericht beim Wirt im Gasthof Zum Kalten Fisch an der Kreuzung zum Norden.
Tkemen starrte auf die Worte, die in Hast auf das Papier gekritzelt worden waren und auf den Spritzer Siegelwachs, der sich quer über die Seite zog. Dann drehte er das Papier um und betrachtete die andere Seite, doch abgesehen von dem zerbrochenen Siegel war sie leer. Es war alles. So sehr er sich auch einzureden versuchte, dass eine geheime Botschaft zwischen den Zeilen stand, da war nichts.
Was, zum Teufel, hatte Erik sich dabei gedacht? Es war erst zwei Tage her, seit er mit den anderen aus Failin geflohen war. Sie waren den ganzen gestrigen Tag und den Großteil der letzten Nacht geritten, um so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und die Wachen des Königs zu bringen. Während der Regen um sie in langsamen, schweren Tropfen fiel, die ihre Kleidung durchdrangen und sie bis auf die Haut durchnässten, dachte Tkemen an Eriks niedergebranntes Haus und fragte sich, wo er jetzt wohl war. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Lord Eisen wahrscheinlich auf Eriks Spur gebracht hatte. Allerdings nicht schlecht genug, um sich bereitzuerklären, hunderte von Meilen nach Westen ins Niemandsland zu reisen, nur um seltsamen Gerüchten nachzugehen. Andererseits wusste er auch nicht genau, wohin er sich sonst wenden sollte.
Tkemen erhob sich, faltete das Blatt Papier sorgfältig zusammen und steckte es in seine Tasche, dann ging er mit langen Schritten durch den vor Nässe tropfenden Wald zum Rastplatz zurück. Wenigstens hatte der Regen ihre Spuren verwischt, das würde es den Wachen des Königs schwermachen, sie zu verfolgen.
Als er zwischen den Bäumen hervortrat, saß Haku auf einem umgestürzten Baumstamm und warf einen Stock ins Unterholz hinein, den Nikito hechelnd zurückbrachte. Elais saß zusammengesunken auf einem Stein am Rand des Feuers. Ihre Hände fuhren ihren Stab entlang, an dessen Spitze ein eisblauer Kristall befestigt war. Seit sie Failin entkommen waren, wirkte sie etwas lebhafter als zuvor, was allerdings nicht viel hieß. Sie schreckte nicht mehr zusammen, wenn Tkemen sie ansprach und sie starrte nur noch die Hälfte der Zeit ins Leere. Das war alles. Kaya kniete am Rand eines qualmenden Haufens von Ästen und blies mit voller Kraft hinein. Die Diebin war nirgends zu sehen. Manche Dinge änderten sich eben nie.
Als er sich näherte, blickte Kaya auf. Ihr Gesicht war voller Ruß.
„Na endlich“, sagte sie. „Ich könnte hier ein bisschen Hilfe gebrauchen.“
„Lass es“, sagte Haku. „Das Holz ist mit Wasser vollgesogen. Das gibt nie ein richtiges Feuer.“
„Denkst du!“, gab Kaya zurück und hustete.
„Frag doch Elais“, sagte Tkemen. „Ich bin sicher, sie könnte innerhalb von Sekunden ein schönes, warmes Feuer zaubern.“
Im selben Augenblick, in dem er die Worte ausgesprochen hatte, bereute Tkemen sie bereits. Es hatte ein Scherz sein sollen, eine belanglose Plänkelei, doch Elais zuckte zusammen, als hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben und versank noch tiefer im Schatten ihrer Kapuze.
„Ganz gleich“, sagte er hastig und ließ sich neben dem qualmenden Holzstoß nieder. „Wir müssen besprechen, wohin wir uns als nächstes wenden.“
Zu seiner Überraschung sah Elais auf.
„Du hast gesagt, dass du mich in meine Heimat zurückbringen wirst“, sagte sie.
Hatte er das? Tkemen erinnerte sich undeutlich an ein Versprechen, dass er dem Befehlshaber der Wachen gegeben hatte, damit dieser Elais gehen ließ. Anscheinend hatte Elais seinen Worten mehr Bedeutung zugemessen, als er vorgesehen hatte.
„Du hast doch gesagt, dass du nicht zurückkehren kannst“, warf Kaya ein.
„Richtig“, sagte Tkemen. „Ist der Gebrauch von Magie bei euch Elfen nicht verboten?“
„Aber ich habe keine Magie mehr“, sagte Elais und sah ihn mit ihren Augen voll smaragdgrünem Feuer an und Tkemen fühlte wieder, wie sich sein schlechtes Gewissen regte.
„Bist du sicher, dass deine Sippe die Verbannung aufheben wird?“
Elais schwieg.
„Ich denke, du solltest gehen“, sagte Haku plötzlich.
„Und weshalb?“, fragte Tkemen sarkastisch. „Kennst du dich etwa besonders gut in Elfenpolitik aus?“
„Nein“, sagte Haku ruhig, „aber Lord Eisen hat eine Armee im Westen aufgestellt, die die Elfen angreifen wird, sobald er das Signal gibt. Ich denke, dass Elais’ Familie davon wissen sollte.“
Elais entfuhr ein erstickter Laut, doch Tkemen hörte ihn kaum. Er starrte Haku an.
„Lord Eisen hat davon mit deinem Freund gesprochen“, sagte Haku, „kurz bevor sie mich gefangen genommen haben.“
„Er ist nicht mein Freund“, meinte Tkemen düster.
Haku zuckte mit den Schultern.
„Wie dem auch sei. Lord Eisen hat von einem mächtigen Magier gesprochen, mit dem die Herrinnen verbündet sind. Seine Bedingung, sie zu unterstützen, war, dass Lord Eisen eine Armee aufstellt, die die Elfen vernichtet.“
„Ein mächtiger Magier?“, fragte Kaya. „Wer könnte das sein und was hat er davon?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, sagte Haku.
Er sah so aus, als ob er noch etwas hinzufügen wollte, doch dann blieb sein Blick an Kaya hängen und er schwieg. Tkemen fragte sich, ob Haku mehr wusste, als er ihnen sagte. Er beschloss, ihn bei Gelegenheit zur Rede zu stellen.
„Vielleicht fürchtet er die Elfen“, sagte er stattdessen. „Wahrscheinlich hat ihm keiner gesagt, dass Magie inzwischen bei ihnen verboten ist.“
„Die wichtigste Frage ist doch“, sagte Kaya, „was möchtest du tun, Elais?“
Tkemen wandte sich der Elfe zu. Er bemerkte erst jetzt, dass sie während ihrer Diskussion ungewöhnlich still geblieben war, selbst für ihre Verhältnisse. Sie war blass und in ihren Augen loderte ein Feuer, das er dort schon lange nicht mehr gesehen hatte. Abrupt stand sie auf.
„Ich muss sie warnen“, sagte sie. Sie machte Anstalten hier und jetzt von der Lichtung zu laufen, doch Tkemen packte sie an den Schultern und drückte sie auf den Baumstamm nieder.
„Ganz ruhig“, sagte er. „Die Wälder der Elfen liegen viele Tagesreisen von hier im Westen. Lass uns erst noch einmal darüber reden.“
„Es gibt nichts zu bereden.“
Elais war steif unter seinen Händen und er spürte die Spannung, die von ihr ausging.
„Wer weiß, welchen Empfang dir deine Sippe bereiten wird“, sagte er. „Was ist die Strafe für Verbannte, die zurückkehren?“
Elais schwieg.
„Außerdem“, fuhr er fort, „hast du bedacht, was wir anderen dort sollen? Soweit ich weiß, ist deine Sippe Menschen nicht gerade freundlich gesinnt. Es könnte gefährlich werden.“
„Gib es auf.“
Tkemen sah auf. Die Diebin stand an einen der Bäume gelehnt am Rande der Lichtung und blickte mit einem verächtlichen Ausdruck zu ihm hinüber. Noch während er sich fragte, wie lange sie wohl schon dort stand, stieß sie sich ab und kam auf sie zu.
„Er wird dich nicht in deine Heimat zurückbringen.“
Tkemen spürte Zorn in sich aufwallen, wie eigentlich jedes Mal, wenn er mit der Diebin sprach. Natürlich würde sie die Gelegenheit dazu nutzen, sie gegeneinander aufzustacheln. Als reichte es nicht, dass sie ihnen überallhin folgte, seit sie die Hauptstadt verlassen hatten.
„Sein Versprechen war das eines Edelmannes und wie viel das wert ist, weiß man. Denkst du wirklich, er würde allein wegen einer Elfe hunderte Meilen nach Westen reisen, wenn es ihm persönlich nichts bringt?“
Tkemen ließ Elais' Schultern fahren und stellte sich zwischen sie und die Diebin.
„Halt dich da raus“, sagte er. „Wenn dir nicht passt, was wir beschließen, kannst du ja nach Ferian zurückkehren.“
„Nur zu“, sagte sie. Ihre Gesichter waren nun nur noch wenige Handbreit voneinander entfernt. „Lenk ruhig ab. Das ändert nichts daran, dass du ein Versprechen gegeben hast, das du nicht halten wirst und wir beide wissen es.“
Tkemen spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg.
„Ich habe nicht vor, es zu brechen“, sagte er. Er hob seine Stimme. „Hörst du, Elais? Wenn es wirklich das ist, was du willst, dann werde ich nicht ruhen, bis du wieder in den Wäldern deiner Heimat angekommen bist.“
Elais sah auf.
„Wirklich?“, fragte sie.
„Natürlich“, presste Tkemen zwischen den Zähnen hervor und sah dabei der Diebin ins höhnische Gesicht. „Beim zehnfach geschmiedeten Stahl meiner Katanas.“
„Na dann“, sagte Kaya. „Wann brechen wir auf?“
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