ANTS

ANTS

Photo by MD_JERRY on Unsplash
Photo by MD_JERRY on Unsplash

Es gibt vier Komponenten, die einen Leser dazu bringen, eine Geschichte zu Ende zu lesen und die ihn schließlich das Buch befriedigt zuschlagen lassen, und sie lassen sich in einem Wort zusammenfassen: ANTS – Attachment – Novelty – Tension – Satisfaction. Oder auf Deutsch: Emotionale Bindung, Neuheit, Spannung und Befriedigung. Jeder dieser Faktoren lässt sich weiter herunterbrechen, aber im Grunde setzt sich die Unterhaltung, die ein Leser von einer Geschichte bekommt aus diesen vier zusammen. Was bedeuten die vier Punkte im Einzelnen?

 

Emotionale Bindung

 

Die emotionale Bindung ist vor allem am Anfang einer Geschichte wichtig. Je stärker die Bindung ist, die der Leser für einen Protagonisten empfindet, desto eher wird er sich dazu verleiten lassen, tiefer in die Geschichte einzusteigen und desto stärker fühlt er mit ihm. Die emotionale Bindung ist der Grund, warum es so wichtig ist, den Hauptprotagonisten so früh wie möglich einzuführen, am besten bereits im ersten Satz. Was aber bindet den Leser an einen Protagonisten? Einerseits geschieht dies durch Identifikation – der Leser kennt die Situation, in der sich der Protagonist befindet. Am stärksten aber wird die emotionale Bindung hergestellt, wenn man mit dem Helden mitfühlt. Eines der ersten Dinge, die man über Harry Potter erfährt (direkt nachdem, dass er der Erwählte ist), ist dass er in einem Besenschrank lebt und seine Verwandten ihm übel mitspielen. Man kann nicht anders, man fühlt Mitleid mit ihm für diese ungerechte Behandlung und wünscht sich, dass es Harry gelingt, aus seinem Leben auszubrechen. In „der Name des Windes“ findet die emotionale Bindung dagegen erst sehr spät statt, dann aber vollständig. Hier ist es zunächst Neugier (Spannung), die die Geschichte treibt. Erst als Kvothes Familie von den Chandrian ermordet wird und er Jahre allein überleben muss, traumatisiert und halb verhungert – da fühlt man für ihn.

 

Neuheit

 

Neuheit ist in den meisten Geschichten wichtig, um die Durststrecke zwischen der Einführung des Protagonisten und dem Einsetzen der wirklich spannenden Ereignisse zu überwinden. Je neuer und ungewohnter die Welt ist, die vorgestellt wird, desto eher wird sie die Aufmerksamkeit des Lesers gefangennehmen. Auch hier ist Harry Potter ein perfektes Beispiel: Die Welt, in der die Zauberer leben ist voller verrückter Einfälle: von magischen Sammelkarten über fliehende Schokofrösche gibt es dort alles mögliche, was man so in keiner anderen Geschichte finden kann. Hier ist es wichtig, den Leser auf unausgetretene Pfade mitzunehmen; je ausgefallener und ungewöhnlicher die Welt, desto besser. Oft haben Geschichten, die dem Leser viel Neues bieten, einen eher leichteren, humorvollen Ton, der später einem ernsteren weicht, sobald die Geschichte an Spannung zunimmt. Im Herrn der Ringe wird der Leser zunächst einmal den Hobbits mitsamt ihren zahlreichen etwas absonderlichen Eigenheiten vorgestellt, bevor Frodo und seine Gefährten sich auf ihre lange, beschwerliche Reise machen.

 

Spannung

 

Die Spannung setzt in den meisten Geschichten erst ein, nachdem die wichtigsten Charaktere und die Welt vorgestellt wurden. Wichtig ist, dass Spannung erst dann aufkommen kann, wenn der Leser bereits eine emotionale Bindung zu einem oder mehreren der Protagonisten gebildet hat. Dies ist wahr, auch wenn der Protagonist später keine Rolle mehr spielt: „Game of Thrones“ setzt mit einem Charakter ein, der am Ende des Prologs stirbt, aber nicht bevor der Leser nicht durch seine Augen die White Walkers gehen hat. Und auch hier nimmt George R.R. Martin sich zunächst Zeit, den Leser in die Gedankenwelt des Rangers einzuführen, ihm seine Ängste und Hoffnungen nahezubringen – erst dann hofft der Leser, dass es ihm gelingen wird zu entkommen.

 

Befriedigung

 

Die vierte und letzte Komponente einer gelungenen Geschichte. Es ist für den Leser befriedigend, wenn ein Handlungsbogen gut zum Abschluss geführt wird, wenn eine Geschichte „rund“ ist, wenn alle Versprechungen, die der Erzähler dem Leser gemacht hat, eingelöst wurden. In „Sternenstaub“ kehrt Tristan zu Victoria zurück, um ihr wie versprochen, einen Stern zu bringen – im Austausch gegen ihre Liebe. Stattdessen ist Tristan durch seine Erfahrung jenseits der Mauer gewachsen: Er bringt Victoria zwar den Teil eines Sterns, aber er erkennt nun wie oberflächlich sie ist und will ihre Hand nicht mehr. Die letzte Staffel der Fernsehserie „Game of Thrones“ lässt dagegen gemischte Gefühle zurück: Jon erdolcht Daenerys als der wiedergeborene Azor Azahi, um die Welt vor ihrer Terrorherrschaft zu schützen. Da dies vorher mehrfach versteckt angedeutet wurde, ist dies ein befriedigendes Ende der Geschichte. Weniger befriedigend wurde dagegen von vielen Zuschauern die Schlacht gegen die White Walkers empfunden – was genau hat Bran nochmal für eine wichtige Rolle in der Erzählung erfüllt? (Genau: gar keine.)

 

Eine runde Geschichte lässt Leser das Buch zufrieden zuschlagen, statt wütend eine Ein-Sterne-Rezension zurückzulassen.

 

Emotionale Bindung, Neuheit, Spannung und Befriedigung – alle vier Faktoren sind wichtig, um den Leser emotional, nicht nur intellektuell zu unterhalten, ihn in die Geschichte zu ziehen und sicherzustellen, dass er sie auch bis zum Schluss liest. Und ihn schließlich zufrieden aus der Welt, die man für ihn aufgebaut hat, wieder zu entlassen.

 

Hinweis: Das Konzept für ANTS habe ich einem Artikel von Chris Winkle entnommen: https://mythcreants.com/